Ein Blick auf die europäische Gasversorgung und Preisgestaltung

Ein Blick auf die europäische Gasversorgung und Preisgestaltung

Lesedauer: 5 Minuten

Der europäische Erdgasmarkt wurde durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die daraufhin vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen erschüttert. Wie sehen die Auswirkungen aus und wohin steuert der Markt? Um dies herauszufinden, hat Sam Stopps von GLG eine Telefonkonferenz mit Robert Hull, einem Veteranen der Energiebranche, veranstaltet. Im Folgenden finden Sie die Highlights dieser Veranstaltung.

Wie haben sich die Ereignisse des Jahres 2022 auf die Gaspreise ausgewirkt?

Die Turbulenzen nahmen bereits 2021 ihren Anfang. In jenem Sommer begannen die Preise zu steigen, was vor allem auf die Erholung von COVID-19 und das Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage zurückzuführen war. Vor Weihnachten lagen die Preise deutlich höher als erwartet. Im Vereinigten Königreich gerieten mehrere Strom- und Gasversorger in Schwierigkeiten, weil sie ihre Positionen nicht abgesichert hatten und mit großen Fehlbeträgen konfrontiert waren.

Anfang 2022 begann sich die Lage zu beruhigen, doch dann marschierte Russland in die Ukraine ein und die Preise schnellten in die Höhe. Sie stiegen auf über 200 Euro pro Megawattstunde. Im Sommer schossen die Preise erneut sprunghaft nach oben, da die Importe aus Russland zurückgingen und die Nord-Stream-Pipeline außer Betrieb genommen wurde. Im September erreichten die Preise ihren Höhepunkt, als die Versorgungsunternehmen ihre Speicher auffüllten und die Ausfälle mehrerer französischer Kernkraftwerke die Nachfrage nach Gas zusätzlich anheizten. Erst im vierten Quartal 2022 begannen die Preise zu sinken.

Waren der warme Winter und die Möglichkeit, die Speicher zu füllen, nur einmaliges Glück, oder hat Europa sein Versorgungsproblem langfristig gelöst?

Das große Problem bei Gas ist nicht ein unzureichendes Angebot – es gibt neben Russland viele andere Anbieter. Das Problem ist der Transport von den Produktionsstätten zu den Orten, an denen es benötigt wird. Letztes Jahr sahen wir Flotten von LNG-Tankern entlang der europäischen Küste, die darauf warteten, dass die Preise stiegen, damit sie ihre Ladung zum Höchstpreis löschen konnten.

Die andere Seite betrifft die Nachfrage. Die von den EU-Ländern ergriffenen Maßnahmen zum Einsparen von Gas zeigen Wirkung. Und obwohl die Nachfrage aus China steigt, scheint sich dies nicht wesentlich auf die weltweiten Gaspreise auszuwirken.

Hat sich Europa ausreichend auf den nächsten Winter vorbereitet?

Die Frage der Reserven hat bei Energieversorgern, Politikern und Kunden so hohe Priorität, dass sie im nächsten Winter kein Problem darstellen dürften. Zu Beginn des Krieges waren die Speicherstände in Deutschland, Italien und den Niederlanden – wo sich der Großteil der Speicher befindet – sehr niedrig und lagen nur bei etwa 40 Prozent. Nach dem Winter 2022/2023 waren die Speicher hingegen zu etwa 60 Prozent ausgelastet. Es sollte kein Problem sein, sie über den Sommer wieder aufzufüllen.

Konnte Europa seine Abhängigkeit von russischem Gas verringern?

Zwar fließt immer noch etwas russisches Gas durch die Pipelines in Osteuropa, aber Deutschland hat seine Abhängigkeit von russischem Gas fast vollständig abgebaut. Früher bezog Europa etwa 40 Prozent seines Gases aus Russland, rund 160 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Der Gesamtverbrauch ist um 10 bis 20 Prozent gesunken. Die deutschen Gasversorgungsunternehmen haben rasch LNG-Terminals gebaut und darüber russisches Gas durch Flüssigerdgas aus den USA, Algerien und anderen Ländern ersetzt. Auch Norwegens Pipelines liefern viel mehr Gas als früher, unter anderem über eine neue Pipeline von Litauen nach Polen. Italien verfügt über Gaspipelines aus Nordafrika sowie über mehrere LNG-Terminals, die es ihm ermöglichen, Gas aus anderen Teilen der Welt zu kaufen.

Was macht Russland mit dem Gas, das es früher nach Europa exportiert hat?

Wir wissen, dass China und Indien große Abnehmer von russischem Gas sind. Aber wie wird es dorthin gebracht? Die Pipelinenetze zu diesen beiden Ländern scheinen nicht stabil zu sein, und der Aufbau der Infrastruktur für die Lieferung von verflüssigtem russischem Erdgas wird kostspielig sein und einige Zeit in Anspruch nehmen. Bei den derzeitigen Gaspreisen würde sich diese Investition wahrscheinlich lohnen, aber in einer Welt mit niedrigeren Gaspreisen ist das möglicherweise nicht der Fall.

Wie viel Spielraum hat Europa, um seinen Energieverbrauch zu senken, und wie wirksam war dies bisher?

Der warme Winter 2022/2023 erschwert die Beurteilung der europäischen Energiesparbemühungen. Aber es gibt viele Schritte, die Europa unternommen hat und weiterhin unternehmen wird, um den Verbrauch zu senken. Die einfachsten betreffen Fragen der Energieeffizienz. Der andere wichtige Bereich ist die Umstellung in der Stromerzeugung und die Nutzung alternativer Energien. In diesem Bereich wird der zunehmende Einsatz von Wärmepumpen in ganz Europa einen großen Unterschied machen, ebenso wie die Nutzung von Wind und Sonne zur Stromerzeugung. All diese Dinge werden kommen, manche schneller als andere.

Ein letzter Gedanke?

Die ausreichende Versorgung mit Gas wurde lange Zeit als eine Frage des Marktes betrachtet. Dieser hat jahrzehntelang gut funktioniert. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem die Energiesicherheit zu einem wichtigen Thema für die Regierung geworden ist. Angesichts der vorherrschenden wirtschaftlichen Unsicherheit und der hohen Energiepreise – ganz zu schweigen von der Sorge um die globale Erwärmung – scheint es, dass die Politik und nicht der Markt die Fragen der Gasversorgung in absehbarer Zukunft weiterhin dominieren wird.


Über Robert Hull

Robert Hull ist eine langjährige Führungskraft in der Energiebranche und seit der Gründung von Riverswan Energy Advisory im Jahr 2017 Geschäftsführer des Unternehmens. Außerdem ist er seit 2017 Director bei Intelligent Land Investments. Zuvor war er Director bei KPMG (2015-2017), Managing Director bei Ofgem (2005-2015) und Head of Business Development, Energy, Transport & Infrastructure bei SNR Denton (2003-2005). Außerdem war er viele Jahre bei National Grid tätig, wo er International Investment Director (1996-2002) und Strategy Manager (1990-1995) war.


Dieser Artikel basiert auf der GLG Telekonferenz „European Gas Supplies and Pricing”. Wenn Sie Zugang zu dieser Veranstaltung wünschen oder mit Experten der Energiewirtschaft wie Robert Hull oder einem unserer mehr als eine Million Branchenexperten sprechen möchten, kontaktieren Sie uns bitte.


Fragen, die während der Telekonferenz gestellt wurden:

  • Wie haben sich die Gaspreise im Jahr 2022 verändert und geschwankt, und welche Schlüsselereignisse haben zu diesen Schwankungen geführt?
  • War das warme Wetter und die Aufrechterhaltung hoher Speicherbestände der einzige Grund, warum Europa im vergangenen Winter eine Erdgaskrise vermieden hat?
  • Bereitet sich Europa angemessen darauf vor, seine Gasspeicherkapazität vor dem Winter 2023/24 wieder aufzufüllen?
  • Wie erfolgreich war Europa bei der Verringerung seiner Abhängigkeit von russischem Gas? Wie viel russisches Gas wird Ihrer Meinung nach im Jahr 2023 nach Europa fließen?
  • Wohin ist das russische Gas, das früher nach Europa geflossen ist, verschwunden? Wurde es nach China oder Indien umgeleitet?
  • Auf welche Länder war Europa 2022 für Gasimporte angewiesen?
  • Wie haben sich die Pipelineexplosionen des letzten Jahres auf den Gasmarkt ausgewirkt? Waren die Auswirkungen kurz- oder langfristig?
  • Kann Europa seinen Energieverbrauch weiter senken und seine Vorräte schonen?
  • Wie effektiv hat Europa seinen Gasverbrauch gesenkt?
  • Wie schätzen Sie die Energiekosten für Privathaushalte im Jahr 2023 ein, insbesondere im Vereinigten Königreich? Gibt es eine Region, in der Sie einen Preisrückgang erwarten?

Abonnieren

Erhalten Sie die neuesten Erkenntnisse und Einsichten vom globalen Marktplatz für Wissen